Strand 2

Manchmal … ja, aber auch wirklich nur manches Mal beneidete sie Shen um seine mangelnde Professionalität, die er in neunzig Prozent der Zeit sowohl an den Tag als auch an die Nacht legte. Mit lediglich einer davon abgeschnittenen Scheibe wäre die Vize im Dauereinsatz, die in ihr schwelenden Kommentare reihenweise der gegebenen Vorlagen entsprechend zu verteilen. Einen links, einen rechts. Azami bot recht wenig Angriffsfläche für solcherlei; zudem gebot diese unterschwellige, sie umgarnende Woge aus Melancholie jeder noch so scherzhaft gemeinten Stichelei Einheit – Karasu hingegen sah man deutlich an, dass er sich nicht in seinem natürlichen Lebensraum aufhielt und schon gar nicht an der Seite etwaiger Artgenossen.
Allerdings war er ein Kommandant und niemand, den man mir nichts, dir nichts danach fragen konnte, wie es sich eigentlich anfühlte, von einer weiblichen, rothaarigen Fukutaicho bei sämtlichen Wettbewerben nach allen Regeln der Kunst vorgeführt worden zu sein. Drum nickte Reika unbewegt, als er sich ebenfalls abzusetzen gedachte und ließ offen, ob sein lakonischer Monolog ihr entgangen war oder nicht.
Sie selbst wollte sich nun endlich dem Zwecke dieses Aufenthalts zuwenden, wobei ihr jedoch zunächst ein verdrießlicher Ausdruck in die Züge kroch. Das Loch. Infolge des Betrachts stemmten sich ihre Hände in die Hüften, die Augen schmälten sich zur üblich abschätzenden Form. Üblicherweise wäre ihr nun das obligatorische ‚Was kannst du eigentlich allein?‘ über die Lippen gekommen, doch gab sie nicht die mindere Hoffnung auf, dass Shen ausnahmsweise einmal etwas zur positiven Koexistenz in der Gotei 13 tat – und wenn es auch nur die vollbusige Madame mit der ungewohnt traurigen Aura betraf. Ja, gewisse Dinge konnte man eben nicht einfach so verbergen …

Plötzlich merkte sie unter dem Licht eines unerwarteten Einfalls auf und entschwebte in Richtung ihres Seefahrersacks – der Tasche –, um den Arm bis zum Boden hineinzustecken und dabei den Eindruck zu erwecken, wohl selbst bei veterinären Untersuchungen eine gute Figur zu machen. Kaum, da Gewünschtes in die Finger bekommen war, schloss sich ein »He, Hono-Taicho« in dessen Richtung an, gefolgt vom simplen Wurf des geheimnisvollen Kleinods der taschigen Tiefen.
Wenn er clever war, würde er dies vor neugierigen Blicken abzuschirmen wissen, denn es handelte sich um etwas, das Männer nur unter außerordentlichen Umständen jemals in Händen halten sollten. Eine kleine Tube wasserfestes Make-Up! Diese wirkte schon etwas angekratzt und ließ auf einen sehr langen Aufenthalt in der Tasche schließen; doch die Fülle darin wiederum zeigte, das solcherlei auch bei Reika eher wenig Anklang fand. Aber frau hatte eben auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein – und dazu zählte auch ein Kommandant, dem die Schleichwerbung für seine Adoptivfamilie unter den strändischen Umständen etwas unpässlich erschien.
Sollte er fragend in ihre Richtung sehen, würde er ein Paar verheißungsvoll hochgezogener Brauen entdecken und einen grauen Blick, der flüchtig, aber vielsagend auf seine Schulter flackerte. Der Rest der Miene blieb gleichmütig, auch wenn sich hinter den Silberaugen gewiss ein kleines Schmunzeln verbarg. Natürlich war das kein Stänkern! Kishiro Reika wollte schlicht hilfsbereit sein! … Da nahmen sich Shen und sie wohl nicht viel. Irgendwie.

Ja, sie hatte den Klappstuhl ausgegraben! Natürlich nur, um das Kriegsbeil verbuddelt zu lassen, welches das einzige Handtuch in ihrem Besitz thematisierte. Doch wer konnte schon mit Sicherheit behaupten, dass in diesem augenscheinlich bodenlosen Seesack nicht auch noch eine Garnitur Badetextil des Einsatzes harrte? Bisweilen gab sie sich allerdings damit zufrieden, noch etwas in die Ferne zu schauen – oder im entsprechenden Moment hinüber zum röchelnden Shen. Einzig monoton geblinzelt wurde auf dieses glottale Konzert hin, statt irgendwelche Anstalten zu machen, ihm zur Hilfe zu eilen. Er wäre gewiss der erste Shinigami, der daran verreckt, sich verschluckt zu haben.
»Eine Vision«, wiederholte sie im gleichbleibenden Stimmfall und kratzte sich ohne tiefgründigere Bedeutung mit dem Zeigefinger an der Wange. Selbst als er dann fortfuhr und sich dabei in einen sinntechnischen Disput brachte, blieb die Miene unbewegt – erst einmal durfte der Visionär seinen bahnbrechenden Einfall zu Ende führen. »Das klingt nach einem guten Plan, mein shenischer Freund.« , kam es fast schon eine Prise nobel, indem auch sie nun endlich mit Klopfopfern auf dem Metall der Dose um gesittete Öffnung bat, ehe der Falz sich geräuschvoll durchs Aliminium schnitt, »Dein Plan hat lediglich eine Schwachstelle, die du nicht bedacht hast.« , gab sie zu verstehen und gönnte sich einen Schluck, gefolgt von einer Kunstpause, um ihrer Entität mehr Epik zu verleihen, »…wir sind bereits in der Menschenwelt.«

»Komplimente helfen dir da auch nicht weiter.«, entgegnete sie seidig und begann ein weiteres Mal im Beutel zu wühlen; und das in einer Form, die unweigerlich folgende Frage aufwarf: Wie tief war dieses Ding eigentlich? Von außen konnte man sichtlich den Raum abgrenzen, der sich darin befinden sollte, doch so wie sich Reika ereiferte, schien weit mehr Fülle das Innere des Leders zu bekleiden. Bestätigung fand sich wenige Sekunden später, als der Rotschopf nicht etwa den Hasen aus dem Hute zauberte, aber dafür das Zanpakutou mit dem Namen ‚Akaboshi‘ aus dem Seesack. Imaginärer Applaus brandete an dieser Stelle wohl für die Künste der 12. Kompanie auf, von welcher sie diesen Beutel modifiziert bekommen hatte – denn das Schwert war von solcher Größe, die unter keinen normalen Umständen ganz vom taschigen Schlund hätte umfasst werden können. Jener wurde beiseite gestellt, ehe sich Reika mit einer Zärtlichkeit daran machte, das Katana mit beiden Händen zu umfassen und mit sanften, aufmerksamen Blicken zu liebkosen, dass man annehmen könnte, ihr Schwertgeist erschiene gleich höchstpersönlich.
»Wenn man Sand zum Schmelzen bringt, wird ja angeblich Glas daraus.«, stellte sie in den Raum und besah sich die mitleidserregende Minikuhle, die Shen zumindest angefangen hatte. Dann folgte ein tonloses Seufzen; »…aber ich bezweifle, dass diese Art von Sand dafür geeignet wär.«, während sie die Klinge eine Spur weit aus der Scheide zog und den ebenmäßigen Schliff bewunderte, den ihre Seele mühelos fertig gebracht hatte. Dabei kam ihr ein anderer Zweck in den Sinn, welcher sich genau wider jenen Umstand aussprach, der ihre Strandaufenthalte immer etwas eintönig gestaltet hatte … Was das wohl sein mochte?
»…ein… Orca?«, echote sie eine Spur verdutzt und schürzte die Lippen, »…und in deiner selbstlosen Sorge um meinen makellosen Teint ist dir kein besseres Beispiel eingefallen, als ein fünf Tonnen schwerer Wal?«, setzte sie den schneidenden Gedanken fort und schob die Braue maßregelnd hinauf. Nach über hundert Jahren der Bekanntschaft wusste sie sich längst nicht mehr von seinem seriösen Gebaren in ungewöhnlichen Situationen irritieren oder gar beunruhigen zu lassen. Das überließ Reika lieber weniger vertrauten Damen, welche nach einer Begegnung mit Shen nicht selten fürchteten, er würde ihnen mit genau dieser Miene des Nachts vor dem Fenster auflauern.
Nachdem schließlich ein weiterer, etwas größerer Schluck aus der Dose genossen war, erhob sich Madame widererwartend aus ihrem Stuhl – ohne jedoch die filigranen Greifer an die Tuche gleiten zu lassen; nein, noch musste sich ihr bester Freund mit dem Anblick nackter Gliedmaßen begnügen. »Mach dich mal nützlich und grab die Kuhle weiter, mein edler Heroe. Muss nicht sonderlich breit sein.«, fügte die Vizekommandantin noch hinzu, da sie seinen wenig begeisterten Ausdruck daraufhin bereits erahnte. Anschließend knisterte es noch flüchtig, bevor sie mit dem geräuschvollen Etwas in der Hand in Richtung der Wasserung stiefelte.